01.02.2023
Brauchtum im Bistum
Wozu brauchen wir Bräuche?
Brauchtum, Rituale, Traditionen: Das mag manchem altmodisch erscheinen. Aber geben sie nicht auch Halt und Sicherheit? Davon sind Anne Deeken-Köbbe, Christina Kathmann und Carolin Moß überzeugt – wegen ihrer Erfahrungen in der Erwachsenenbildung und Gemeindepastoral.

Welche Bräuche und Rituale sie am liebsten mögen? Da sind sich die drei Frauen im Grunde einig. Sie erzählen dabei weniger von jenem Brauchtum, das mit viel Feierlichkeit und Aufwand daherkommt, sondern mehr von jenen Alltagsritualen, die sie in jungen Jahren kennen- und schätzengelernt haben. Und immer noch pflegen: das kleine Kreuz auf die Stirn der Tochter vor dem Start in den Kindergarten, die brennende Kerze bei einer Prüfung, das Licht für den verstorbenen Verwandten auf dem Friedhof. Sich und andere damit unter Gottes Segen, Zuspruch und auch Heilszusage zu stellen – das ist für Anne Deeken-Köbbe im besten Sinn „ein guter Brauch“.
Deeken-Köbbe arbeitet als pädagogische Leiterin der Katholischen Erwachsenenbildung (KEB) Emsland-Mitte. Neben ihr sitzen an diesem Vormittag Christina Kathmann von der KEB-Kontaktstelle Eltern-Kind und Carolin Moß, Gemeindereferentin in der Pfarreiengemeinschaft Meppen-Süd. Alle drei Frauen machen sich in ihren Arbeitsfeldern Gedanken über das Thema religiöse Bräuche und Rituale. Besonders Kathmann und Moß, denn sie bieten im „Familienraum“ der KEB und Meppener Propsteigemeinde ein breit gefächertes Programm für Eltern mit Kindern an – in dem oft der Jahreskreis mit seinen Traditionen eine große Rolle spielt. Damit machen sie durchweg gute Erfahrungen. „Das kann ein Türöffner sein – für mehr Kontakte, für Gespräche über ganz andere Themen“, meint Kathmann.
Aber warum kommen das Palmstockbasteln und Martinssingen noch immer so gut an – auch bei Familien, die vielleicht gar nicht mehr so große Bindungen an die Kirche haben? Alle drei Frauen sind sich einig, dass solche Bräuche und Traditionen Halt, Sicherheit und Orientierung geben. „Gerade jetzt in unserer schnelllebigen Zeit“, sagt Carolin Moß. Da stöhnen manche, dass die Monate davonfliegen und ein Tag dem anderen gleicht. Bräuche dagegen gliedern das Jahr, unterscheiden, gewichten und geben ein Gerüst. „Die Menschen suchen heute feste Strukturen“, meint Anne Deeken-Köbbe und ist überzeugt davon, dass die Kirche mit ihren Angeboten im Jahreskreis das bieten könnte.
Nicht jeden Brauch unverändert bis ins Unendliche pflegen
In diesen Zeiten vielleicht noch mehr als früher. „Manchmal hat doch jeder von uns den Eindruck, dass die Welt wie aus den Angeln gehoben ist“, sagt Christina Kathmann und spricht von der Corona-Krise, vom Ukraine-Krieg, von hohen Energiekosten und der Angst vieler Menschen, weil unser Leben fragil und ungewiss geworden ist. Ein fester Brauch kann da Sicherheit und ein gutes Gefühl geben: Das hat sich nicht verändert, das habe ich noch, das bleibt mir trotz allem, da gehöre ich dazu.
Und dieses „Dazugehören“ zu einer Gemeinde oder einem Freundeskreis, zu einer Nachbarschaft oder einer Elterngruppe, die zusammen bei einer Flurprozession betet, die zusammen den Reisesegen empfängt, die zusammen zum Nikolausumzug geht – das ist eine wichtige Vergewisserung. „Außerdem macht es einfach Spaß und Freude“, sagt Christina Kathmann mit einem Lächeln. Das gilt besonders auch für junge Leute in den Kirchengemeinden, die viel öfter als Erwachsene denken, geschätzte Traditionen mit ihrem Engagement lebendig halten. „Die holen die Tannenbäume nach Weihnachten ab, die organisieren Osterfeuer, die binden die Erntekrone“, sagt Anne Deeken-Köbbe. „Das ist ein toller Einsatz im Jahreskreis.“
Bei aller Sympathie für Traditionen: Trotzdem halten die drei Frauen nichts davon, jeden Brauch komplett unverändert bis ins Unendliche zu pflegen. Wie für fast alles in unserem Leben gilt auch hier: Wir müssen darüber nachdenken, was und warum wir manches wie tun. „Wir dürfen nicht so lange mit manchem Brauch weitermachen, bis er vielleicht sinnentleert ist. Da muss man den einen oder anderen daraufhin mal neu abklopfen und die Frage nach der Qualität stellen“, findet Carolin Moß. Denn es muss ihrer Ansicht nach immer um die Botschaft, um den Inhalt, um den Kern dessen gehen, was die Kirche da anbietet. Tradition darf kein Selbstzweck sein, sie darf und muss sich zuweilen wandeln. „Manche Dinge brauchen mal ein Update ins Hier und Jetzt“, sagt die Gemeindereferentin.
Auch die Form des Martinssegens überdenken
Ein Beispiel dazu fällt ihr sofort ein, die Sternsingeraktion. Das Kindermissionswerk und der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) haben sich klar dagegen positioniert, Kinder und Jugendliche beim Dreikönigssingen zum Teil schwarz zu schminken – weil diese „Tradition“ rassistische Züge trägt und die Reduzierung auf die Hautfarbe Klischees und Vorurteile verstärkt. Nach Kenntnis von Carolin Moß folgen die meisten Gemeinden mittlerweile dieser Empfehlung.
Und gerade die Corona-Zeit, in der viele über Jahre tradierte Rituale und Bräuche sich wegen der Einschränkungen ändern mussten, hat gezeigt, dass Wandel in eine neue Form auf gute Resonanz stößt– und damit auch neue Zielgruppen erreicht. Statt in der Kirche hat sich Moß zum Beispiel im Dezember zu einer etwas anderen Andacht auf Spielplätzen mit Familien getroffen und ihnen dort die Weihnachtsgeschichte erzählt.
Was solchen Wandel betrifft, da gibt es nach Ansicht der Frauen noch Luft nach oben. Dass zum Beispiel ein Kreuzweg ohne aktuelle Bezüge zu den Kriegen und Krisen weltweit gebetet wird, kann sich keiner der drei mehr vorstellen. Und auch beim Martinssingen müsse man vielerorts die Form vielleicht überdenken. Denn das der „arme Mann“ mit „Lumpen“ neben „Martin“ herläuft, erscheint Moß nicht mehr zeitgemäß. „Armut ist nicht immer sichtbar. Das muss man den Kinder erklären – damit sie aufmerksam sein können, wenn es anderen nicht gutgeht.“
Dass Bräuche wie das Martinssingen gemeinschaftsbildend sein können, davon sind Deeken-Köbbe, Kathmann und Moß überzeugt. Aber wie erfahren junge Familien, die gerade in ein Neubaugebiet gezogen sind, von solchen Traditionen und Ritualen? Der Pfarrbrief und die Vermeldung im Hochamt reichen längst nicht mehr. „Da müssen wir noch viel mehr andere Kanäle nutzen“, meint Christina Kathmann.
Petra Diek-Münchow
Teil 1: Blasiussegen
Blasius gilt als Heiliger gegen Halskrankheiten. Doch beim Blasiussegen rund um Mariä Lichtmess geht es um mehr, sagt Pastoralreferent Johannes Gebbe, der auch Kindern diesen Brauch gut erklären kann.
Wenn Pastoralreferent Johannes Gebbe in der Kindertagesstätte St. Marien in Bremen von Blasius erzählt, trifft er immer einen Nerv. Die Heiligenlegende ist wie für Kinder gemacht. Sie hat einen Protagonisten, den Arzt Blasius – was ein Arzt ist, wissen die Kinder. Und sie hat eine Figur, mit der sie sich besonders gut identifizieren können: einen kleinen Jungen, der an einer Fischgräte zu ersticken droht und gerettet wird.
Gebbe bleibt aber nicht bei der Legende stehen. Er übersetzt den Blasiussegen in die heutige Zeit, erklärt, dass es dabei nicht um Hokuspokus, Magie oder Wunderheilung geht, sondern um die Bitte um Gesundheit und Heil – um Gott, „der bei uns ist in allen Situationen unseres Lebens, der uns Nähe, Liebe, Schutz zusagt“.
Der Blasiussegen wird rund um das Fest Darstellung des Herrn angeboten, und er spricht auch bei Erwachsenen alle Sinne an. Durch die Handauflegung und die gekreuzten Kerzen, die nah an das Gesicht herangeführt werden, wird es spürbar licht und warm. Gerade in der kalten und dunklen Jahreszeit ist das eine Zusage, eine Verheißung: Wir kommen ins Licht, in die Wärme Gottes. Manchmal, sagt Gebbe, wirke der Segen wie ein Anhängsel nach dem Motto: „Jetzt feiern wir Gottesdienst, danach kann sich jeder noch den Segen abholen.“ Das findet er schade.
Wie viele kirchliche Bräuche, hat auch der Blasiussegen seinen Ursprung in einer Legende. Bischof Blasius, ein gelernter Arzt, lebte um 300 in Sebaste, der damaligen Hauptstadt der römischen Provinz Armenien, heute Sivas in der Türkei. Die Christen wurden damals verfolgt. Blasius leitete seine Gemeinde lange von seinem Versteck aus, einer Höhle, wurde dann aber doch entdeckt und ins Gefängnis geworfen. Dort soll er durch sein Gebet einen Jungen, der eine Fischgräte verschluckt hatte, vor dem Erstickungstod gerettet haben.
Im Kindergarten erzählt Johannes Gebbe anschaulich anhand von Figuren und Gegenständen – um am Ende darauf hinzuweisen: „Wenn ich krank bin, brauche ich Medizin, aber auch etwas, das über Tabletten und Fiebersaft hinausgeht: Zuspruch, Menschen, die mich in den Arm nehmen, wenn mir etwas wehtut.“ So schlägt der Bremer Pastoralreferent den Bogen, dass auch Zuspruch den Heilungsprozess fördert und die Abwehrkräfte stärkt. Und schon ist er beim Segen, „der ja nichts anderes ist als der Zuspruch Gottes, wenn es mir schlecht geht, wenn ich krank bin und jemanden brauche, der mich stärkt“.
Menschen, sagt Johannes Gebbe, sehnen sich nach Zuspruch, „gerade weil sie heute so vieles für sich selbst regeln müssen“. Den Wert von guten und tröstenden Worten hat jeder schon einmal erlebt. Insofern passe der Blasiussegen gut in die heutige Zeit – die Erkenntnis, „dass Gott für uns da ist und auf unserer Seite steht, dass seine Liebe den ganzen Menschen umfasst, den Körper und die Seele“.
Anja Sabel
Teil 2: Aschermittwoch
Die Asche für den Aschermittwoch wird traditionell aus Buchsbaumzweigen vom Palmsonntag des Vorjahres gewonnen. In der Bremer Propsteigemeinde St. Johann übernimmt die Küsterin, Schwester Francis, diese Aufgabe.
Buchsbaumzweige für die Asche am Aschermittwoch.
Foto: Anja Sabel
Im Pfarrgarten der Bremer Propsteigemeinde St. Johann steigt am frühen Nachmittag dicker Qualm auf. Schwester Francis Wächter macht Feuer. Als Küsterin übernimmt sie eben auch ausgefallene Aufträge – und das Herstellen der Asche für den Aschermittwoch gehört dazu.
Schwester Francis stellt einen feuerfesten Eimer auf, gefüllt mit trockenen Buchsbaumzweigen, gesegnet am Palmsonntag des Vorjahres. Die zündet sie nun an. Es lodert, knistert und raucht ordentlich. Das muss sein. Erst, wenn wirklich alle Zweige verbrannt sind, kann die Thuiner Franziskanerin zum nächsten Schritt übergehen. Sie streicht die abgekühlten verkohlten Überreste durch ein Sieb, so dass feine Asche übrig bleibt – Asche für die beiden Aschermittwochsgottesdienste in St. Johann.
Am Aschermittwoch ist alles vorbei, heißt es in einem Karnevalsschlager von Jupp Schmitz. Vorbei ist zumindest das närrische Treiben. Ansonsten sei das Unsinn, sagt Schwester Francis, denn jetzt gehe es doch erst so richtig los: Mit einer Zeit des Fastens und der Buße bereiten sich Gläubige 40 Tage lang auf Ostern vor, das höchste Fest im Kirchenjahr. Schwester Francis verzichtet wie immer auf Süßigkeiten. Weil ihr das besonders schwerfällt. „Ich könnte zu jeder Mahlzeit Süßes essen, aber in der Fastenzeit bin ich knallhart“, sagt sie und lacht. Fasten soll aber kein Hungerstreik sein. Für die Ordensfrau heißt Fasten vielmehr: Beten mit Leib und Seele, „und ein Verzicht berührt auch die Seele“.
Das Aschekreuz, das der Priester den Gläubigen auf die Stirn zeichnet oder auf den Kopf streut, steht für Umkehr, Buße und Vergänglichkeit. Es ist der Startschuss für eine Umkehrzeit. Die Asche soll die Menschen daran erinnern, dass der Tod nicht das Ende ist, sondern der Anfang eines ewigen Lebens bei Gott. Sie symbolisiert zugleich, dass Altes vergehen muss, damit Neues kommen kann. Zunächst wird die Asche mit Weihwasser gesegnet, dann spricht der Priester die Worte: „Bedenke Mensch, dass du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehren wirst.“
"Die Leute dachten, dass es bei uns brennt"
Schwester Francis weiß, dass dieser Brauch vielen Gläubigen etwas bedeutet. „Unsere Aschermittwochsgottesdienste sind immer gut besucht“, sagt sie und erinnert sich mit Bedauern, dass sie während der Corona-Pandemie wegen der strengen Auflagen Gläubige wieder wegschicken musste.
Der Beginn der Fastenzeit wurde unter Papst Gregor dem Großen (590 bis 604) auf einen Mittwoch verlegt. Damals legten sich Büßer ein Bußgewand an und wurden mit Asche bestreut. Hier liegt der Ursprung des Wortes Aschermittwoch. Seit dem elften Jahrhundert gehört das Bestreuen mit Asche zur Gottesdienstliturgie. Seit dem zwölften Jahrhundert wird Asche aus den verbrannten Palm- und Ölzweigen des Vorjahres gewonnen. Das ist bis heute so.
verkohlten Überreste zu feiner Asche. Foto:
Anja Sabel
Von alters her ist der Aschermittwoch ein strenger Fastentag: Gläubige sollen an diesem Tag kein Fleisch essen und keinen Alkohol trinken. Auch hinter dieser Abstinenz steht ein symbolischer Sinn: Der Verzicht auf Fleisch soll bereitmachen, um sich auf das geistliche Leben und auf Gott zu besinnen. Strenge Fastenvorschriften wie den Verzicht auf Fleisch gab es in früheren Jahrhunderten für die gesamte Bußzeit, inzwischen sind die Abstinenztage auf den Aschermittwoch und den Karfreitag beschränkt.
Schwester Francis, die in Bremen mit drei anderen Thuiner Franziskanerinnen zusammenlebt, hat die Buchsbaumzweige anfangs im Garten ihres Konvents verbrannt. „Das qualmte schon heftig“, sagt sie. „Die Leute dachten deshalb, dass es bei uns brennt und haben geklingelt. Bloß gut, dass sie nicht gleich die Feuerwehr gerufen haben.“
Anja Sabel
Teil 3: Tischgebet
Auf dem Bauernhof von Albert Wiese in Twistringen wird vor und nach dem Essen ein Tischgebet gesprochen. Das ist dem Landwirt wichtig. Er ist überzeugt, dass sich dieses Ritual auch positiv auf das Miteinander auswirkt.

Es ist nur ein kurzer Moment, bevor alle hungrig zugreifen, aber dieser Moment – ein Moment dankbarer Verbundenheit – ist Albert Wiese ganz wichtig. „Ohne Tischgebet geht gar nichts“, sagt der Landwirt aus Twistringen. Er lacht. „Selbst unsere Enkelkinder wissen das und fangen nicht einfach an zu essen.“
Ihren Bauernhof im Twistringer Ortsteil Binghausen bewirtschaftet Familie Wiese seit vielen Generationen. Sie erntet auf ihren Feldern verschiedene Gemüsesorten, hält Schweine und hat sich auf Legehennenhaltung spezialisiert. Im Hofladen bietet Rosi Wiese unter anderem selbstgemachte Marmelade, Brot, Honig, Wurst und Liköre zum Verkauf an.
Mittags treffen sich die Wieses auf ihrem Hof in einer der beiden Küchen: Albert Wiese, seine Frau Rosi und seine Eltern, die inzwischen beide über 90 sind. So ist es Tradition. „Wir beten vor und nach dem Essen, und derjenige, in dessen Küche wir sitzen, spricht das Tischgebet“, sagt Wiese. Am Wochenende, wenn die Enkelkinder dabei sind, kommt ein Gebetswürfel zum Einsatz.
Gemeinsame Mahlzeiten sind für den Landwirt ein Stück Lebensqualität und „mehr wert als das Sattwerden“. Schon in der Kindheit habe er gelernt, das, was auf den Tisch kommt, zu schätzen. „Wir kochen auch heute immer noch frisch und kaufen keinen fertigen Kram.“ Gäste staunen manchmal, welch schmackhafte und kostengünstige Mahlzeiten sich aus einfachen Zutaten zubereiten lassen.
In der amerikanischen Zeichentrickserie „Die Simpsons“ betet Bart Simpson: „Lieber Gott, wir danken dir für gar nichts; wir haben alles selbst bezahlt.“ Was so humorvoll daherkommt, verfehlt aber, worum es beim Tischgebet wirklich geht – und das gilt auch für das gern gesprochene „Piep, piep, piep, wir haben uns alle lieb, guten Appetit“. Es geht um Dankbarkeit für das Essen, um Dankbarkeit für die Menschen, die es zubereiten. Und auch darum, Gott zu danken für das große Ganze, findet Albert Wiese.
Was wir beten, ist am Ende eine Typfrage
Seinen Ursprung hat das christliche Tischgebet im jüdischen Brauch, vor und nach einer Mahlzeit einen Dank oder Lobpreis auf Gott als Schöpfer aller Erdengaben zu sprechen. So handhabte es Jesus auch beim Letzten Abendmahl: „Er nahm das Brot und sagte Dank, brach es und reichte es seinen Jüngern …“
Allerdings ging der Charakter des Dankes nach und nach verloren. Stattdessen rückte die Bitte an Gott, die Gaben zu segnen, in den Mittelpunkt. Auch die Form des Gebets veränderte sich: Man glich das Tischgebet durch Psalmverse, Kyrierufe und Orationen immer mehr dem Stundengebet an. Und schließlich wurde diese komplexe Form des Tischgebetes selbst zu einem Bestandteil des vorkonziliaren Stundenbuchs.
Im Familienleben konnte sich dieser komplizierte Gebetsritus allerdings nie durchsetzen. Stattdessen beschränkte man sich am häuslichen Tisch auf das Vaterunser oder andere bekannte Volksgebete. Was und wie wir beten, ist am Ende eine Typfrage. Dafür gibt es einen großen Gebetsschatz – neben den bewährten auch viele neue Formen des Tischgebets. Beliebt sind auch Holzwürfel, Kerzenständer oder Kalenderblätter mit Gebetstexten. Das Zentrum jeder Eucharistiefeier bildet übrigens immer ein Tischgebet – das eucharistische Hochgebet.
Durch Beten, sagt Albert Wiese, werde das Essen nicht besser oder schlechter, aber es wirke sich auf das Miteinander aus. „Man haut keinen in die Pfanne, mit dem man vorher gebetet hat.“ Wenn Wiese unterwegs ist, verpasst er das gemeinsame Mittagessen. „Da sitzt man dann irgendwo allein, isst, wird zwar satt, aber es fehlt was“, sagt er.
Essen ist kein Recht, das uns zusteht und längst auch keine Privatsache mehr, sondern eine Frage der Ethik und Verantwortung der Welt und den Mitmenschen gegenüber. Genau da leistet das Tischgebet einen wertvollen Beitrag: Es befreit aus der Ich-Bezogenheit und macht klar, dass andere Menschen für unser Essen arbeiten. Für Albert Wiese weist das Gebet auch auf einen Gott hin, „der uns die Erde anvertraut hat“.
Anja Sabel